Zur Geschichten-Übersicht - Zur Homepage St. Maria Magdalena

Barbara

In der Nacht hatte sie nur wenig Schlaf gefunden. Schon lange vor Sonnenaufgang war Barbara wach. Sie hatte ihr schlichtes, hartes Bett verlassen und saß auf einem Hocker in dem ansonsten kahlen Raum. Nur auf dem Fensterbrett stand ein alter, schon angeschlagener Tonbecher, darin ein Zweig von einem Kirschbaum, der völlig vertrocknet schien. Und dieser scheinbar tote Zweig stand für ihre Lage. Barbara war es klar bewusst: Dieser eben anbrechende Tag sollte der letzte Tag ihres 24-jährigen Lebens sein. Und sie nutzte die verbleibende Zeit, ihren Lebenslauf noch einmal an sich vorbeiziehen zu lassen.

Barbara dachte zurück an ihre Kindheit. Sie gehörte zu den wenigen Menschen, denen es im römischen Kaiserreich an nichts fehlte. Ihr Vater war ein wohlhabender Kaufmann, der auch in die Politik des Reiches verwickelt war – in einer Weise, die Barbara nie so richtig verstand. Sie wuchs auf, umgeben von Haussklaven und Sklavinnen; ein privat angestelltes Lehrerehepaar, Junia und Markus, kümmerten sich um ihre Ausbildung, das Essen war reichlich und ganz nach dem Geschmack der Zeit, es fehlte an nichts, zumindest an nichts, was man mit Geld bezahlen konnte. Ihre Mutter war ihr in inniger Liebe verbunden, der Vater legte großen Wert darauf, dass aus ihr eine gebildete, geachtete Frau wurde. Er nahm sich mehr Zeit für seine Tochter als die meisten anderen römischen Patriarchen.

Barbara erinnerte sich weiter: Ein erster Schatten fiel auf ihr Leben, als ihre Mutter an einer tückischen Krankheit starb; Barbara war da 15 Jahre alt. Sie und ihr Vater kamen über den Verlust schlecht hinweg. Der Vater versuchte, die Mutter zu ersetzen. Aber das gelang ihm nur teilweise. Er war zielstrebig in seiner Erziehung, aber er sah nur seinen Weg als den richtigen an, konnte sich schlecht in die Gedanken und Bedürfnisse eines Mädchens hineinversetzen, die Ideen eines Mädchens, das gerade zur Frau wurde. Er konnte sich seine Tochter nur als Ehefrau eines reichen Kaufmanns oder kaiserlichen Beamten vorstellen.

Immer wieder einmal war der Vater für längere Zeit verreist. Das Hauslehrer-Ehepaar kümmerte sich darum, dass Barbara in diesen Zeiten gut betreut war. Und eines Tages fragte sie ihre Erzieher nach ihrer Religion. Junia und Markus berichteten Barbara, dass sie seit einiger Zeit Christen waren. Sie glaubten an den einen und einzigen Gott, der der Gott Israels und zugleich der Gott des Himmels und der ganzen Erde ist. Sie glaubten an Jesus Christus, der von Gott her auf die Welt kam, um die Botschaft von der allumfassenden Liebe zu verkünden. Für seine Botschaft war er getötet worden, aber Gott hatte ihn auferweckt. Sie glaubten an den Heiligen Geist, der in den Herzen der Menschen wohnt und sie zum Guten antreibt. Sie glaubten an die Gemeinschaft der Kirche, die die Botschaft weitertragen sollte in die Welt, bis Jesus eines Tages wiederkam.

Barbara hatte ihre Lehrer gebeten, ihr immer mehr zu erzählen. Und sie bekam Zweifel, tiefe Zweifel an dem, was sie bisher geglaubt hatte: Die alten römischen Götter waren eigentlich nur Menschen mit besonders großer Macht, denen es an nichts Menschlichem fehlte: Sie logen und betrogen, sie bekämpften sich gegenseitig und waren ihren Göttergattinnen immer wieder untreu. Und besonders die neue Zutat zu diesem Glauben wurde ihr immer fremder: dass nämlich der Kaiser ein gottgleiches Wesen sei, dem untertänigste Verehrung zukam. Der Gott der Christen, der reiner Geist und nichts als Liebe ist: der erschien ihr viel vertrauter und näher.

Und Barbara dachte zurück an ihre Taufe in der Osternacht vor drei Jahren. Sie tauchte ein ins Wasser, war gleichsam wiedergeboren als neuer Mensch; sie wurde Christus, dem Gesalbten, ähnlich in der Taufsalbung durch den Bischof; sie nahm erstmals teil am Herrenmahl. Das war ihr Weg, das war ihre Welt, davon war sie überzeugt.

Ihr Vater hatte an diesem Schritt keine Freude. Zuerst ließ er den neuen Glauben seiner Tochter widerwillig zu. Aber dann kam in Rom ein neuer Kaiser an die Macht, ein Kaiser, der dem alten Götterkult wieder aufhelfen wollte. Die sich ausbreitende Gemeinschaft der Christen war ihm dafür ein Hindernis. Und er nahm die Verfolgung der Christen wieder auf, die für einige Jahrzehnte geruht hatte. Das bedeutet für Barbaras Vater einen heftigen Konflikt. Seine Tochter war Christin, er war durch sein geheimes diplomatisches Amt dem Kaiser in besonderer Weise verpflichtet. Und so hatte er versucht, Barbara zu überreden: Sie sollte doch mit Rücksicht auf seine hohe Stellung zurückkehren zum alten Götter- und Kaiserkult, sollte ihm keine Schande machen, sollte sich verhalten, wie es einer Tochter aus höheren Kreisen in der römischen Gesellschaft zukam.

Barbara dachte zurück an schlaflose Nächte, die ihr das Ansinnen des Vaters bereitet hatte. Sie liebte ihren Vater und wollte keinen Bruch mit ihm. Aber sie spürte genauso, dass sie in dem Glauben an den einen und dreieinen Gott so verwurzelt war, dass sie sich da unmöglich abwenden konnte.

Die nächsten Jahre wurden schlimm. Der Vater schickte Junia und Markus weg. Er versuchte mehr und mehr, erst durch Überredung, dann durch Drohungen Barbara auf seine Seite zu ziehen. Und als das Reden nichts fruchtete, griff er zu der Macht, die jeder römische Familienvater über seine Angehörigen hatte: Er sperrte seiner Tochter den Ausgang, hielt sie im Haus eingeschlossen, bis sie sich eines Besseren besann. Und als das alles nicht half, ging er bis zum Äußersten: Er drohte Barbara, sie dem Gericht auszuliefern.

So war Barbara in die Lage geraten, in der sie gerade war. Heute sollte ihr Prozess stattfinden. Der Vater hoffte, dass sie der Richter wieder auf den rechten Weg bringen sollte. Aber im Fall der Verweigerung drohte die Todesstrafe.

Und so saß Barbara in ihrer kahlen Zelle. Sie hatte nicht vor, dem Christusglauben abzuschwören. Sie würde auf keinen Fall dem Kaiser opfern. Ihr Leben war in höchster Gefahr, das wusste sie. Sie konnte nicht mehr viel für sich tun.

Aber eine Aufgabe blieb ihr noch. Sie kannte die Bergpredigt Jesu. Sie kannte die Stelle, an der es heißt: Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters im Himmel werdet. Sie fragte sich: „Bin ich schon so weit? Mein Vater, der mir zum Feind geworden ist, mein Vater, der mich verfolgt und verfolgen lässt: Kann ich ihm vergeben? Kann ich ihn sogar lieben?“ Ihr wurde bewusst: Liebt eure Feinde – das klingt tapfer und gut und fromm. Aber wenn da wirklich ein Feind ist, wenn da wirklich jemand ist, der mir nach dem Leben trachtet – kann ich da noch Liebe aufbringen?

Ja, sie konnte ihrem Vater vergeben. Sie konnte einsehen, dass er selbst unter Druck stand. Sie konnte nachfühlen, dass er selbst hoffte, dass es am Ende nicht zum Schlimmsten kommen würde. Ja, sie schaffte es sogar, für ihren Vater zu beten. Aber – war das schon die Liebe, die Jesus verkündet hatte? War das schon die Liebe zum Feind, an dem man die Jüngerinnen und Jünger Jesu erkennen konnte?

Barbara war am Zweifeln, nicht an Gott, sondern an sich selbst. Würde sie die Größe haben, Liebe zu ihrem Vater und Feind aufzubringen? Es war die letzte große Frage ihres Lebens. Liebte sie genug – aus ganzem Herzen?

Und in der Stille ihrer Zelle fiel ihr Blick auf den Kirschenzweig am Fenster. Er stand – fast von einem Augenblick auf den anderen – in voller Blüte, weiß, reich, über und über lebendig. Der scheinbar abgestorbene Zweig war zu neuem Leben gekommen. Und Barbara dachte an den Ölzweig, den die Taube dem Noah brachte und das Ende der Sintflut anzeigte. Sie dachte an den Mandelbaumzweig, den der Prophet Jeremia erblickt hatte als Zeichen einer neuen Zukunft. Sie dachte an das lebendige Reis aus der toten Wurzel des Jesse, wie es der Prophet Jesaja gesehen hatte. Sie dachte an die Palmzweige, mit denen die Menschenmengen Jesus zujubelten bei seinem Einzug in Jerusalem. Sie dachte an Bilder, die das Kreuz Jesu als blühenden Lebensbaum zeigten. Sie sah den Zweig vor dem Fenster in voller Blüte stehen, und sie wusste: Auch wenn ich heute sterben muss – ich bin in Gottes Hand.

***

Wenige Jahre nach Barbaras Tod endeten die Christenverfolgungen im Römerreich. Der Name der Märtyrin Barbara wurde überliefert und die Legende von ihrem Zweig. Die Barbarazweige sind mehr als ein schöner Brauch und ein nettes Dekor. Sie tragen die Botschaft in sich: Im Tod ist das Leben.

Peter Wünsche, 7.12.2025

Bild: Wikimedia commons


peter.wuensche@t-online.de

Zur Geschichten-Übersicht - Zur Homepage St. Maria Magdalena