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„Jakob, erzähl doch bitte noch eine Geschichte von Jesus!" So wurde er oft gefragt. Kinder fragten so, aber auch Erwachsene. Ihr Durst nach immer neuen Jesusgeschichten war manchmal unersättlich. Und Jakob erzählte … immer wieder.
Jakob, das war ein Mann um die 60 Jahre, er war Witwer, seine Frau war bei der Geburt ihres dritten Kindes gestorben. Er hatte die Kinder mit Hilfe seiner Schwester aufgezogen, jetzt waren sie längst erwachsen und hatten selbst Familien gegründet. Jakob lebte als Ziegenzüchter, und er war im Lauf seines Lebens zu einigem Wohlstand gekommen. Jetzt konnte er es langsamer angehen lassen. Und so hatte er Zeit für sein Ehrenamt in der Gemeinde der Christen von Antiochien in Syrien: Da war er einer der Katecheten, also ein Lehrer, die die Taufbewerber unterrichteten, aber auch denen, die schon Christen waren, immer wieder Geschichten aus der Bibel erzählten. Das war so ungefähr zu der Zeit, die man heute als das Jahr 200 nach Christi Geburt zählt.
„Jakob, erzähl doch eine Geschichte von Jesus!" So wurde er gefragt – und er erzählte gern. Und dann kam doch der Tag, dass eines der Kinder, die neunjährige Rebekka, zu ihm sagte: „Jakob, deine Geschichten sind schön. Aber langsam kennen wir die alle." Und ihr Bruder, der zwölfjährige Ruben fragte ein bisschen kritisch: „Wir wollen noch mehr wissen. Zum Beispiel von Maria. In deinen Geschichten ist Maria plötzlich da als die Verlobte von Josef. Aber woher kam sie denn? Wer waren ihre Eltern? Was hat sie denn vorher gemacht? Warum ist ausgerechnet sie zur Mutter von Jesus geworden?"
Jakob kam ins Nachdenken. Gern hätte er den Kindern etwas aus der Kindheit von Maria erzählt. Aber in den überlieferten Jesusgeschichten, in den vier Evangelien stand darüber einfach nichts. Er dachte nach – zwei ganze Wochen lang. Und in der nächsten Katechesestunde konnte er den Kindern und auch einigen Erwachsenen, die dazugekommen waren, eine Geschichte erzählen aus der Kindheit von Maria und von ihren Eltern Joachim und Anna. Die waren erst spät Eltern geworden und hatten versprochen, ihr Kind ganz in den Dienst Gottes zu stellen. Diese Geschichte von der jungen Maria ist bis heute erhalten und hört sich so an:
Das Kind Maria wurde dreijährig. Da sagte Joachim: „Rufet die Töchter der Hebräer, die unbefleckten, als Begleiterinnen herbei! Sie sollen je eine Fackel nehmen, und die sollen zur Ablenkung für das Kind brennen, damit das Kind sich nicht nach hinten umdreht und sein Herz nicht verführt wird weg vom Tempel des Herrn." Und sie hielten es so, bis sie zum Tempel des Herrn hinaufkamen.
Und der Priester nahm Maria in Obhut, küsste und segnete sie und sprach: „Groß gemacht hat der Herr deinen Namen unter allen Geschlechtern. An dir wird am Ende der Tage der Herr sein Lösegeld den Kindern Israel offenbaren." Und er hieß sie sich auf der dritten Stufe des Altars niedersetzen, und der Herr Gott legte Anmut auf sie. Da begann sie auf ihren Füßen zu tanzen, und das ganze Haus Israel gewann sie lieb.
Und ihre Eltern zogen wieder hinab, waren voller Staunen, und sie lobten Gott den Gebieter dafür, dass das Kind sich nicht ihnen zugewandt hatte, um bei ihnen zu bleiben.
Maria aber war im Tempel des Herrn, wie eine Taube mit ganz wenig Speise sich beköstigend, und empfing Nahrung aus der Hand eines Engels. Und Maria blieb im Tempel, bis sie zwölf Jahre alt war.
Jakob hatte seine kurze Geschichte beendet. Die Kinder bedankten sich bei ihm: „Jetzt wissen wir also, wie das mit Maria als Kind war. Sie stand schon ganz jung im Dienst Gottes. Aber weißt du noch mehr von ihr?" Jakob gab zur Antwort: „Kommt in zwei Wochen wieder, dann kann ich euch mehr aus dem Leben von Maria erzählen." Froh gestimmt gingen die Kinder nach Haus.
Einer der Erwachsenen, die auch zugehört hatten, Thomas mit Namen, ging nicht. Er gehörte zum Kreis der Gemeindeältesten. Als die Kinder gegangen waren, sagte er zu Jakob: „Was tust du da? Du hast doch diese Mariengeschichte selbst erfunden. Du warst doch gar nicht dabei vor zweihundert Jahren. Du wirst doch nicht etwa behaupten, ein Engel oder gar Gott selbst hätte dir diese Erzählung eingegeben. Darfst du das: eine erfundene Geschichte den Kindern als Wahrheit hinstellen?"
Jakob entgegnete: „Diese Frage habe ich mir auch gestellt. Und ich kam zum Schluss: Ich darf das tun. Ich habe die Geschichte selbst geschrieben, das stimmt. Aber ich habe sie so geschrieben, dass sie so gewesen sein könnte. Und ich habe sie so geschrieben, wie die heiligen Schriften der Bibel auch von Gott und den Menschen reden."
Thomas war noch nicht überzeugt. „Behauptest du da nicht ein bisschen zu viel?", fragte er skeptisch zurück.
Und Jakob erklärte ihm: „Nun, ich habe eigentlich nur bekannte Elemente aus der Bibel hergenommen und sie mit Maria verbunden. Dass Maria als kleines Kind in den Tempel kam – das war wie bei dem ganz jungen Samuel, der auch von seinen Eltern in den Tempel gebracht wurde, dort Dienst tat und später zum großen Propheten wurde. Dass Maria von einigen Mädchen mit leuchtenden Fackeln in den Tempel begleitet wurde, das war doch wie in dem Gleichnis von den klugen Jungfrauen, das Jesus selbst erzählt hat. Dass sie sich nicht nach ihrer Vergangenheit umdrehte, sondern vorwärts in die Zukunft blickte, das hat Maria besser gemacht als die Frau des Lot, die zurückblickte und so die Rettung verspielte. Der Lobpreis des Priesters nimmt Marias großen Lobgesang, das Magnificat, voraus. Der Tanz der kleinen Maria vor dem Altar erinnert an den König David, der tanzte, als die Bundeslade in den Tempel gebracht wurde. Dass Anna und Joachim Gott lobten und voller Staunen waren, das erinnert schon an die Hirten, die Jesu Geburt miterlebten. Dass Maria vom ganzen Volk geliebt wurde, das nahm ich aus der Nachricht des Lukas über Jesu Kindheit, wo es heißt: Er fand Gefallen bei Gott und den Menschen. Und die wunderbare Ernährung der kleinen Maria durch Boten vom Himmel – das kennen wir doch so ähnlich vom Propheten Elija. Den versorgten während der großen Hungersnot erst die Raben und später dann ein Engel mit himmlischem Brot."
Thomas war nachdenklich geworden. „Eigentlich hast du Recht. Deine Geschichte ist erfunden – und zugleich ist sie wahr. Du erzählst, was du nicht genau weißt, aber du erzählst von deinem Glauben an Gott, der alles zum Guten fügt." Und Thomas fügte hinzu: „Ja, ich bin einverstanden, dass du mit deinen Geschichten weitermachst. Geschichten können erfunden sein und zugleich wahr. Du hast meinen Segen."
Das alles geschah so oder ähnlich um das Jahr 200. Den Jakob gab es wirklich, und sein Marienleben ging als „Erstevangelium des Jakobus" in die christliche Frömmigkeit ein. Dieses Evangelium gehört nicht in die Bibel, aber es hat doch das Bild von Maria stark geprägt. Marias Kindheit im Tempel, Maria am Spinnrad, Josef als Witwer und alter Mann, sprachlose Hebammen nach der wunderbaren Geburt – was später in unzähligen Bildern und Legenden und Weihnachtskrippen auftaucht, ist hier grundgelegt. Und auch das früher gefeierte Fest „Mariä Opferung" hat hier seinen Ursprung.
Dieses Jakobusevangelium ist nicht Heilige Schrift, aber es ist fromme Schrift. Erfunden und wahr – das schließt sich nicht aus. Es gibt eine tiefere Wahrheit als die der Geschichtsschreibung. Geschichten, gestaltet im Geist eines Menschen, gestaltet aber aus dem Geist Gottes – auch so kann Glaube wachsen.
Peter Wünsche, Dezember 2024
Bild: Von Paolo Uccello - Paolo Uccello, CC BY-SA 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=9667759
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